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Diagnose – ketzerisch, hinterfragend, hilfreich?
von Jürgen Hargens
Beginne ich von Anfang an, wobei der Anfang letztlich auch nur eine, nämlich meine, Entscheidung
darstellt. Welches Verständnis herrscht in unserer Kultur und Gesellschaft über Diagnose? Ich habe es mir einfach gemacht und einmal bei Wikepedia hereingeschaut und finde dort folgendes:
Die Diagnose (griechisch διάγνωσις, diágnosis 'Unterscheidung, Entscheidung', aus διά-, diá-, „durch-“ und γνώσις, gnósis, 'Erkenntnis, Urteil')[1] ist in den Ärzte- und Psychotherapieberufen sowie in den Gesundheitsfachberufen oder der Psychologie die genaue Zuordnung von Befunden – diagnostischen Zeichen oder Symptomen – zu einem Krankheitsbegriff oder einer Symptomatik im Sinne eines Syndroms. Das festgestellte Syndrom ergibt zusammen mit der vermuteten Krankheitsursache und -entstehung (Ätiologie und Pathogenese) die Diagnose. Im weiteren Sinn handelt es sich bei der Diagnose um die Klassifizierung von Phänomenen zu einer Kategorie und deren Interpretation, etwa denen der „Gesundheit“ oder des „Krankseins“. (wikipedia, Zugriff 15.1.2013)
Was fange ich nun damit an?
Als erstes erinnere ich mich an die berühmte Batesonsche Idee der Information: „ein Unterschied,
der einen Unterschied macht“ und damit zusammen an seine Feststellung, dass Erkennen eben nur mit, durch und über Unterscheidungen wie Unterschiede möglich sein soll. Das finde ich in der Definition wieder, sogar in der Doppelsinnigkeit von Unterscheidung und Entscheidung.
Gesucht wird nach Unterschieden, wobei nicht irgendein Abstraktum danach sucht, sondern ein Wesen
aus Fleisch und Blut – im Bereich der Therapie eine PsychotherapeutIn oder eine ÄrztIn. Wobei nach meinem Verständnis der Unterschied, nach dem ich suche, auch „nur“ Ausfluss einer Entscheidung ist, genau
danach zu suchen und nicht nach etwas anderem. Allerdings wird mir in Form einer Berufsausübung vorgeschrieben, welche Unterscheidungen die sind, um die es geht.
Ein etwas ketzerisches Beispiel.
Geht es um psychische Krankheit, so suche ich nach entsprechenden Auffälligkeiten – Unterscheidungen
-, die sich im Leben der Person, die ich „diagnostiziere“, zeigen. Das stellt die in meinen Augen grundsätzliche Schwelle dar: zeigt sich diese Auffälligkeit „objektiv“, also messbar, oder „subjektiv“, also in der jeweils individuell-persönlichen Beschreibung der Person, die ich diagnostizieren will?
Ich werde also vermutlich nicht danach suchen, inwieweit diese Person größer oder kleiner als
die Durchschnittsbevölkerung ist, wie hoch das Einkommen ist, welche Farbe die Haare haben, welcher Finger der längste ist u.Ä. Aber – wieso denn nicht?
Ich könnte sagen, weil es im berufsrechtlichen und fachlich-inhaltlichen Kanon nicht vorgesehen
ist. Nicht, weil es keine Bedeutung haben kann, sondern weil es – per Entscheidung – nicht darum gehen soll.
Anders gesagt –
Diagnose ist nach meinem Verständnis eben keine wahre, objektive und notwendige Maßnahme, sondern Ausdruck einer grundsätzlichen Entscheidung, die ich, wenn ich in diesem Bereich professionell, d.h. im Rahmen der Rechtsnormen tätig sein will, zu akzeptieren habe.
Eine Diagnose
stellt daher in meinen Augen nichts anderes dar, als eine Geschichte, eine Erzählung, die sich im sozialen Miteinander auf eine spezifische, nicht eindeutig vorhersagbare Weise auswirkt. U.a. deshalb, weil es sich letztlich um ein kommunikatives Verhalten handelt und nach der Watzlawickschen Grundannahme, ist
es nicht möglich, nicht zu kommunizieren – oder nicht zu beeinflussen oder keine Folgen zu haben.
Das hat mich dazu angeleitet, Diagnosen gleichsam mit wohlwollendem Zweifel entgegenzutreten und viel stärker nach der „subjektiven“, also der jeweils individuell-persönlichen Beschreibung der Person, die ich
diagnostizieren will, zu fragen.
Anders gesagt – wenn ich psychotherapeutisch arbeite und diagnostiziere, dann interessiert mich zuallererst die subjektive Beschreibung der betroffenen Person selber. Das bedeutet für mich konkret, dass ich immer von einer Grundannahme ausgehe – mein Gegenüber ist in der Lage, (1) sich selber zu beobachten und (2) seine/ihre
Beobachtungen im Rahmen einer Begegnung mitzuteilen. Das bedeutet nun keinesfalls, dass ich dieser Beobachtung und ihrer Beschreibung zustimmen muss. Ich begreife meine Aufgabe bei dieser Form der „diagnostischen Arbeit“ so, dass ich mich bemühe, mein Verstehen dessen, was ich mitgeteilt bekomme, zu vergrößern.
Das stellt für mich den ersten Schritt dar. Der zweite – ebenfalls „diagnostisch“ gesehen – besteht für mich darin, von dieser Beschreibung des „Ist“-Zustandes zu einer subjektiven Beschreibung des „Soll“-Zustandes überzuwechseln.
Und an eben dieser Stelle sehe ich einen Unterschied zur vorherrschenden Idee von „Diagnostik“ – in der Berufsausübung soll die Diagnostik zu Beschreibungen (Erklärungen) der Symptomatik, der Ursachen und letztlich der richtigen, daraus ableitbaren Therapie führen. Nach meinem Verständnis dient die „klassische Diagnostik“ – Befunderhebung als Startpunkt – dazu, die Grundidee der linealen/linearen Kausalität zu stärken. Aus den Befunden leitet sich die Maßnahme ab.
Ich stimme dem nur insoweit zu, als sich nach meinem Verständnis aus der Diagnose der Befunde im psychotherapeutischen Bereich nicht zwangsläufig die oder die richtige Maßnahme ableiten lässt. Im psychotherapeutischen Bereich geht es nach meinem Verständnis – ich verweise dazu auf lösungsfokussierte Ansätze – darum, aus der „Diagnose der subjektiven Ziele“ – was nur die Person selber leisten kann - die
Fähigkeiten der Person herauszuarbeiten, die ihr helfen, ihre Ziele zu erreichen.
Klassische Diagnostik und Symptombefund stellen nach meinem Verständnis sozialrechtlich gesehen nichts anderes dar, als die Eintrittskarte in das Gesundheitssystem (das besser Krankheitssystem hieße), um die entsprechenden Leistungen preiswerter zu bekommen. Preiswerter aufgrund der Krankenversicherung. Nicht
kostenlos, weil das das System nicht mehr zu leisten imstande ist. Und durchaus nicht wirksamer, zumal es keine Verpflichtung zu geben scheint, die Wirksamkeit des Handelns zu evaluieren, sondern vor allem die Übereinstimmung mit den derzeitigen Rechtsnormen.
Perspektivenwechsel
Jürgen Hargens
Eines meiner Lieblingszitate im Bereich systemisch-lösungsorientierten Arbeitens (das in einem meiner Lieblingsbücher steht) lautet scheinbar ganz einfach:
„Menschen sind unverbesserliche und geschickte GeschichtenerzählerInnen – und sie haben die Angewohnheit, zu den Geschichten zu werden, die sie erzählen. Durch Wiederholung verfestigen sich Geschichten zu Wirklichkeiten, und manchmal halten sie die GeschichtenerzählerInnen innerhalb der Grenzen gefangen, die sie selbst erzeugen halfen …“ (Efran et al., 1992, S. 115)
Die Bedeutung liegt für mich in zwei Aspekten (das ist meine Erzählung):
Zum einen ein klarer Verweis darauf, dass das menschliche Leben mittels Geschichten/Erzählungen gebaut wird: Erzählungen, die die Welt erschaffen und bestätigen, ohne allerdings dazu beitragen zu können, inwieweit diese so erzählte Welt Wahrheit enthält. Zum anderen wird mir deutlich, dass Erzählungen immer subjektiver, persönlicher Art sind, denn sie werden von Subjekten, Personen erzählt – und selbstverständlich im sozialen Kontext bestätigt, verändert oder verworfen.
Diese beiden Aspekte haben mir eine gute Erklärung (= Geschichte) verschafft, wie sich Menschen „fühlen“ und „sehen“, die in „Schwierigkeiten“ stecken – sie neigen dazu, ihre Geschichte immer und beinahe ausschließlich aus ihrer ganz persönlichen Perspektive/Position zu erzählen. Das könnte bedeuten, dass sie genau deswegen (linealer Erklärungsversuch) feststecken. PsychologInnen sprechen hier oft vom sog. „Tunnelblick“.
Damit könnte auch die Idee verbunden sein, dass es eben genau aufgrund dieser Perspektive keine Alternativen mehr gibt. Anders gesagt, wenn ich nur aus meiner Sicht/Position heraus erzähle, gibt es ganz einfach keine andere mögliche Erzählung mehr. Wenn ich „Probleme“ habe, also Probleme erzähle, sitze ich tatsächlich fest.
Ich glaube, solche Erfahrungen hat beinahe jeder Mensch schon einmal gemacht. Dies formuliere ich mittlerweile ein wenig um – „Probleme“ erlebe ich oft deshalb als besonders schwer, da sie mir keine anderen Möglichkeiten mehr bieten. Ich erlebe sie und meine Erzählungen dazu als „alternativlos“. Ich beschreibe dies auch so, dass ich ausschließlich aus meiner Sicht, aus meiner Position heraus spreche und kaum noch in der Lage zu sein scheine, mich gleichsam von außen, mit den Augen anderer Personen zu sehen.
In der praktischen Arbeit kann es daher hilfreich sein, anzubieten, sich einmal mit „anderen Augen“ zu sehen. In der Fachliteratur ist die Rede von „Perspektivenwechsel“.
„Weil eine Geschichte wesentliche Elemente im Leben eines Menschen konstituiert, ist es ihr praktisch unmöglich, sich anders zu verhalten, solange sie genau dieselbe Geschichte erzählt.“ (S.121)
„Probleme sind Produkte menschlicher Konversation. Wir werden zu den Geschichten, die wir uns selbst und anderen erzählen und erzeugen dabei Effekte, die vom Lächerlichen bis zum Erhabenen reichen.“
(S. 134)
Jay S. Efran, Michael D. Lukens & Robert J. Lukens
Sprache, Struktur und Wandel.
Bedeutungsrahmen der Psychotherapie
Oder: Wie ‚wirkt’ Psychotherapie
Dortmund: modernes lernen
1992
Alles ganz einfach – oder?
Je mehr ich mich im Laufe meines beruflichen Lebens mit Sprache befasst hatte – wieso hieß es „Muttersprache“? Hätte doch auch „Vatersprache“ oder „Volkssprache“, „Bruder-„ oder „Schwestersprache“ heißen können? – desto mehr fiel mir auf, wie nicht nur Mythen gepflegt und gehegt werden, sondern wie sich auf diese Weise auch Möglichkeiten auslöschen lassen. Mir fiel dazu immer die in meinen Augen völlig falsche Aussage der Angela Merkel ein, dass bestimmte Dinge, Sachen, Entscheidungen, Verhaltensweisen eben einfach „alternativlos“ seien.
Keine Ahnung, woher sie diesen Blödsinn hatte. Entschuldigung! Blödsinn ist meine Bewertung. Keine Wahrheit. Also eben nicht alternativlos.
Meine Erfahrung hatte mich gelehrt, dass im Leben einfach nichts „alternativlos“ ist. Nicht erwünscht, das schon. Nur ist das nicht dasselbe wie alternativlos. Für mich ist das nämlich nichts anderes als eine sprachlich geschickte Form der Manipulation – um schlicht die eigenen Ideen durchzudrücken.
Ich musste oft an die Münzen oder Medaillen denken, von denen es immer heißt, sie hätten zwei Seiten. Ausgemachter Quatsch! Jede Münze, jede Medaille hat mindestens drei Seiten. Ich fand es immer hochspannend, dass die Schmalseite nicht nur übersehen, sondern auch ignoriert wird. Zu klein? Zu unauffällig?
Diese Idee habe ich immer weiter getrieben. Sie verstehen, was ich meine? Nein? Dann will ich es Ihnen erläutern. Ich verwende immer Beispiele, Bilder, Muster, denn ich bin überzeugt, diese sind eingängiger, verstehbarer, fruchtbarer.
Also – die Seiten der Medaille.
Was sind „Seiten“? Auf jeden Fall schillernd. Stellen Sie sich einfach einmal einen guten Freund oder eine gute Freundin vor und schauen Sie sich diesen Menschen mit der Brille „Seiten“ an. Wie viele Seiten erkennen Sie? Und wie viele andere Menschen, die diese Person auch kennen, haben Sie schon damit überrascht, indem sie Ihnen Seiten dieser Person genannt haben, die Ihnen mehr oder weniger unbekannt waren? Wir haben doch alle unsere kleinen, manchmal sogar dunklen Geheimnisse. Eben unsere Seiten.
Was das alles mit Medaillen zu tun hat? Nehmen Sie doch einfach einmal eine schöne große Münze in die Hand. Früher habe ich das immer mit dem Fünf-Mark-Stück gemacht. Das erschien mir immer groß und schwer genug. Die Zwei-Euro-Münze ist ziemlich leicht. Egal. Wenn Sie jetzt bei sich in der Küche oder im Bad stehen – ja, das ist wichtig, weil der Boden meist gefliest ist -, dann lassen Sie die Münze einfach fallen. Und? Gemerkt? Es gab ein Geräusch! Eine weitere Seite der Münze, oder?
Wenn Sie noch mehr Seiten suchen, dann verschenken Sie die Münze an irgendjemanden. Einfach so. Das gibt meist verblüffte Reaktionen. Noch eine Seite. Und so kann es weitergehen.
Ich gebe zu, dieses Beispiel könnte hinken, zeigt mir aber sehr klar, dass es nichts gibt, was alternativlos ist. Jedenfalls ist mir bisher nichts bekannt.
Jetzt höre ich schon die Logiker. Jeder Mensch stirbt. Das ist ein Naturgesetz. Alternativlos. Stimmt das?
Ein kluger Kopf, ein Österreicher – leider, leider gehört er auch zu dieser Gruppe. Diese Gruppe kluger Köpfe. Und diese sind meist ausgestorben. Also haben die Logiker doch Recht? Alternativlos?
In breitester österreichischer Mundart erklärte dieser Mensch, dass die Denkvoraussetzung zu einseitig und vor allem: unbeweisbar ist. Was sich sagen lässt, ist, dass alle bisher bekannten Menschen verstorben sind. Ob das auch für die Zukunft gelte, müsse offenbleiben.
Da bin ich schon bei meinem nächsten Thema: Zukunft. Ständig machen Menschen, schlaue und weniger schlaue, Vorhersagen, die die Zukunft betreffen. Ich bin da sehr, sehr vorsichtig geworden. Niemand kann wissen, was die Zukunft wirklich bringt. Das ist das Einzige, was mir alternativlos erscheint.
Vorhersagen sind Glaubenssachen. Ich glaube, dass das und das geschehen wird. Das finde ich völlig in Ordnung, wenn es denn bloß dabei bliebe. Aus einem, mir noch nicht ganz einleuchtenden Grund, scheinen Menschen geneigt, Begriffe beliebig auszutauschen. Aus einem Glauben wird plötzlich Wahrheit. Aus „ich glaube“, wird „ich weiß“.
Das ist der Punkt, an dem ich mich mit Sokrates sehr verbunden fühle. Der soll – auch eine Überlieferung - gesagt haben: ich weiß, dass ich nichts weiß.
Sehr beruhigend, wie ich finde. Denn das bedeutet, ich kann neugierig bleiben – welche Alternativen es geben könnte, wie sich alles auch ganz anders sehen ließe. Ansichtssachen. Oder einfach Glauben. Das ist, finde ich, nichts anderes als ein Aufzeigen von Möglichkeiten. Oder sollte ich sagen: von möglichen Alternativen?
Ach ja – nichts ist alternativlos. In meinen Augen. Also – Sie müssen mir nicht glauben.
© jürgen hargens
Mai 2015
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Jürgen Hargens
Norderweg 14
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Tel. 046397506