Alles ganz einfach – oder?
Je mehr ich mich im Laufe meines beruflichen Lebens mit Sprache befasst hatte – wieso hieß es „Muttersprache“? Hätte doch auch „Vatersprache“ oder „Volkssprache“, „Bruder-„ oder „Schwestersprache“ heißen können? – desto mehr fiel mir auf, wie nicht nur Mythen gepflegt und gehegt werden, sondern wie sich auf diese Weise auch Möglichkeiten auslöschen lassen. Mir fiel dazu immer die in meinen Augen völlig falsche Aussage der Angela Merkel ein, dass bestimmte Dinge, Sachen, Entscheidungen, Verhaltensweisen eben einfach „alternativlos“ seien.
Keine Ahnung, woher sie diesen Blödsinn hatte. Entschuldigung! Blödsinn ist meine Bewertung. Keine Wahrheit. Also eben nicht alternativlos.
Meine Erfahrung hatte mich gelehrt, dass im Leben einfach nichts „alternativlos“ ist. Nicht erwünscht, das schon. Nur ist das nicht dasselbe wie alternativlos. Für mich ist das nämlich nichts anderes als eine sprachlich geschickte Form der Manipulation – um schlicht die eigenen Ideen durchzudrücken.
Ich musste oft an die Münzen oder Medaillen denken, von denen es immer heißt, sie hätten zwei Seiten. Ausgemachter Quatsch! Jede Münze, jede Medaille hat mindestens drei Seiten. Ich fand es immer hochspannend, dass die Schmalseite nicht nur übersehen, sondern auch ignoriert wird. Zu klein? Zu unauffällig?
Diese Idee habe ich immer weiter getrieben. Sie verstehen, was ich meine? Nein? Dann will ich es Ihnen erläutern. Ich verwende immer Beispiele, Bilder, Muster, denn ich bin überzeugt, diese sind eingängiger, verstehbarer, fruchtbarer.
Also – die Seiten der Medaille.
Was sind „Seiten“? Auf jeden Fall schillernd. Stellen Sie sich einfach einmal einen guten Freund oder eine gute Freundin vor und schauen Sie sich diesen Menschen mit der Brille „Seiten“ an. Wie viele Seiten erkennen Sie? Und wie viele andere Menschen, die diese Person auch kennen, haben Sie schon damit überrascht, indem sie Ihnen Seiten dieser Person genannt haben, die Ihnen mehr oder weniger unbekannt waren? Wir haben doch alle unsere kleinen, manchmal sogar dunklen Geheimnisse. Eben unsere Seiten.
Was das alles mit Medaillen zu tun hat? Nehmen Sie doch einfach einmal eine schöne große Münze in die Hand. Früher habe ich das immer mit dem Fünf-Mark-Stück gemacht. Das erschien mir immer groß und schwer genug. Die Zwei-Euro-Münze ist ziemlich leicht. Egal. Wenn Sie jetzt bei sich in der Küche oder im Bad stehen – ja, das ist wichtig, weil der Boden meist gefliest ist -, dann lassen Sie die Münze einfach fallen. Und? Gemerkt? Es gab ein Geräusch! Eine weitere Seite der Münze, oder?
Wenn Sie noch mehr Seiten suchen, dann verschenken Sie die Münze an irgendjemanden. Einfach so. Das gibt meist verblüffte Reaktionen. Noch eine Seite. Und so kann es weitergehen.
Ich gebe zu, dieses Beispiel könnte hinken, zeigt mir aber sehr klar, dass es nichts gibt, was alternativlos ist. Jedenfalls ist mir bisher nichts bekannt.
Jetzt höre ich schon die Logiker. Jeder Mensch stirbt. Das ist ein Naturgesetz. Alternativlos. Stimmt das?
Ein kluger Kopf, ein Österreicher – leider, leider gehört er auch zu dieser Gruppe. Diese Gruppe kluger Köpfe. Und diese sind meist ausgestorben. Also haben die Logiker doch Recht? Alternativlos?
In breitester österreichischer Mundart erklärte dieser Mensch, dass die Denkvoraussetzung zu einseitig und vor allem: unbeweisbar ist. Was sich sagen lässt, ist, dass alle bisher bekannten Menschen verstorben sind. Ob das auch für die Zukunft gelte, müsse offenbleiben.
Da bin ich schon bei meinem nächsten Thema: Zukunft. Ständig machen Menschen, schlaue und weniger schlaue, Vorhersagen, die die Zukunft betreffen. Ich bin da sehr, sehr vorsichtig geworden. Niemand kann wissen, was die Zukunft wirklich bringt. Das ist das Einzige, was mir alternativlos erscheint.
Vorhersagen sind Glaubenssachen. Ich glaube, dass das und das geschehen wird. Das finde ich völlig in Ordnung, wenn es denn bloß dabei bliebe. Aus einem, mir noch nicht ganz einleuchtenden Grund, scheinen Menschen geneigt, Begriffe beliebig auszutauschen. Aus einem Glauben wird plötzlich Wahrheit. Aus „ich glaube“, wird „ich weiß“.
Das ist der Punkt, an dem ich mich mit Sokrates sehr verbunden fühle. Der soll – auch eine Überlieferung - gesagt haben: ich weiß, dass ich nichts weiß.
Sehr beruhigend, wie ich finde. Denn das bedeutet, ich kann neugierig bleiben – welche Alternativen es geben könnte, wie sich alles auch ganz anders sehen ließe. Ansichtssachen. Oder einfach Glauben. Das ist, finde ich, nichts anderes als ein Aufzeigen von Möglichkeiten. Oder sollte ich sagen: von möglichen Alternativen?
Ach ja – nichts ist alternativlos. In meinen Augen. Also – Sie müssen mir nicht glauben.
© jürgen hargens
Mai 2015